In Talkshows wird das Argument von vielen Gegnern einer liberalen Substanzpolitik immer wieder aufgegriffen: Cannabis sei eine Einstiegsdroge. Gemeint ist der vermeidliche Einstieg in eine Drogenkarriere hin zu stärkeren, gefährlicheren Substanzen. Selbst SPD-Gesundheitsminister Lauterbach hat in einer Talkshow im ARD am 23.01.2023 den Terminus in Bezug auf Cannabis genutzt. Wohlbemerkt, während er sein Ministerium in der Zeit den Referentenentwurf hat zur deutschen Cannabislegalisierung ausgearbeitet hat.
Schon in den 90ern hat sich das deutsche Gesundheitsministerium, damals unter der Leitung von Horst Seehofer (CSU), auf diese Hypothese gestützt und wollte sie wohl mit Hilfe von Prof. Dr. Dieter Kleiber (Freie Universität Berlin) untermauern. Die Studie „Determinanten unterschiedlicher Konsummuster von Cannabis“ wurde in Auftrag gegeben. Finanziert durch Seehofers Ministerium mit immerhin 910.000 Mark.
So sticht folgendes Ergebnis klar und deutlich als Widerspruch zur Einstiegsdrogenhypothese heraus:
Die Analysen ehemaliger Cannabiskonsumenten konnten zeigen, dass ein ‚Ausstieg‘ aus dem Cannabiskonsum unabhängig von der Dauer des Konsums zu jeder Zeit erfolgen kann. Der Übergang zu partner- bzw. familienorientierten Lebensstilen erhöht nach der hier vorliegenden Datenlage die Wahrscheinlichkeit zur Einstellung des Cannabiskonsums. Mit dem Einstellen des Cannabiskonsums nimmt auch die Wahrscheinlichkeit, andere illegale Drogen zu konsumieren, deutlich ab.
„Determinanten unterschiedlicher Konsummuster von Cannabis“, D. Kleiber
Kurzgesagt: Bei einem zu erwartenden Lebenswandel hin zur Familiengründung in den 20ern nimmt die Priorität des Cannabiskonsums ab. Laut Einstiegsdrogenhypothese erwartet man hingegen eher den Wandel hin zu „gefährlicheren“ Substanzen. Oft wird das mit dem Narrativ begründet, dass der Rausch durch die „Droge“ Cannabis nicht mehr ausreicht und man zu riskanteren Mitteln greifen muss.
Alleine die Tatsache, dass es in Deutschland stets um die 4-5 Millionen Cannabiskonsumenten gibt, die zu einem großen Teil nicht dem Weg der Christiane F. folgen sollte ein Hinweis darauf sein, dass es sich hier um populistische Fake-News handelt. Das wird allein schon dadurch deutlich, dass der Begriff ohne jegliches Backup aus der Wissenschaft etabliert wurde. Die These wird auch gerne umgekehrt formuliert, damit sie plausibler klingt: So argumentiert man mit der Substanzgeschichte derjenigen, die es an den Rand der Gesellschaft getrieben hat und nun „an der Nadel hängen“.
Wer Heroin nimmt, hat vorher Cannabis konsumiert
Das mag in vielen Fällen stimmen. Allerdings lässt sich Cannabis auch durch Alkohol, Brot, Nikotin, Muttermilch oder Kokain ersetzen. Sehen tun Vertreter der Theorie hierbei stets nur illegalisierte Substanzen. Wer mit einer jener Substanzen anfinge, probiere auch weitere – damit sei der Weg geebnet.
Was wir in Deutschland und in der ganzen Welt aber sehen ist, dass die absolute Mehrheit der Cannabisnutzer diesen Weg nicht gehen. Gleiches gilt für einen Großteil der Alkoholnutzer, Kaffee-Enthusiasten, Weinliebhaber oder Kettenraucher.
Wissenschaftliche Arbeit zur Gateway-Drug Hypothese in den 2020ern
Obwohl die es wissenschaftlich unumstritten ist, dass die Einstiegsdrogenhypothese sich nicht erhärtet hat, ist sie in der Bevölkerung nach wie vor stark verankert. Die Universität Cambridge hat im Januar 2023 dazu eine aktuelle Studie veröffentlicht. Es galt herauszufinden, wie sich die Legalisierung von Freizeit-Cannabis auf den Konsum selbst, Substanzkonsumstörungen und psychosoziale Störungen auswirkt. Und: Ob gefährdete Personen anfälliger für die Auswirkungen einer Cannabislegalisierung sind als andere.
Studiendesign
Ausgewählt wurden 4043 Zwillinge, die erstmals in ihrer Jugend untersucht wurden und zum Zeitpunkt der Studie in Staaten mit unterschiedlichen Cannabisregulierungen lebten. 40% der Teilnehmer residierten demnach in einem Bundesstaat, in dem Cannabis für den Freizeitgebrauch legal ist.
Im Detail war den Wissenschaftlern wichtig herauszufinden, ob die Legalisierung mit dem Alter, Geschlecht und der externalisieren Psychopathologie interagiert.
Das Ergebnis
Im Kontrolldesign für Zwillinge, bei dem die frühere Cannabiskonsumhäufigkeit bzw. die Symptome der Alkoholabhängigkeit (AUD = Substanzgesbrauchsstörung bzgl. Alkohol) berücksichtigt wurden, konsumierten die Zwillinge, die in einem Staat lebten, in dem Cannabis für den Freizeitgebrauch legal ist, im Durchschnitt häufiger Cannabis und hatten weniger AUD-Symptome als ihre Zwillinge, die in einem Nicht-Freizeitstaat lebten. Die Legalisierung von Cannabis war in der Zwillingsstudie mit keinem anderen nachteiligen Ergebnis verbunden, auch nicht mit einer Cannabiskonsumstörung. Keiner der Risikofaktoren interagierte signifikant mit dem Legalisierungsstatus. Die Legalisierung des Freizeitkonsums wurde also mit einem erhöhten Cannabiskonsum und einem Rückgang der AUD-Symptome in Verbindung gebracht, jedoch nicht mit anderen Fehlanpassungen. Diese Effekte blieben auch bei Zwillingspaaren erhalten, die hinsichtlich des Wohnortes nicht übereinstimmten. Darüber hinaus wurde die Anfälligkeit für den Cannabiskonsum durch das legale Cannabisumfeld nicht verschlimmert. Künftige Forschungsarbeiten könnten kausale Zusammenhänge zwischen Cannabiskonsum und Behandlungsergebnissen untersuchen.
Auch im Jahr 2023 gibt es keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die Einstiegsdrogenhypothese erhärten. Weder bei Cannabis, noch bei Alkohol oder Tabak. Ebenfalls konnte keine Beziehung zwischen der Legalisierung von Cannabis als Genussmittel und der Ausprägung von Psychosen nachgewiesen werden, obwohl Cannabiskonsum wohl mit psychotischen Symptomen korrelieren kann bzw. die Veranlagung dazu den Konsum entsprechend riskanter macht. Im Großen und Ganzen deuten die Ergebnisse zur Kontrolle bei Zwillingen und zur differentiellen Anfälligkeit darauf hin, dass die Auswirkungen der Legalisierung von Cannabis für den Freizeitgebrauch keine signifikanten psychiatrische und psychosozialen Folgen hat. Was allerdings nicht außer acht gelassen werden kann ist auch folgendes Statement der Wissenschaftler:
Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Cannabiskonsum risikolos ist, sondern nur, dass wir keine bedeutsamen Veränderungen bei diesen negativen Ergebnissen als Folge der Legalisierung feststellen können. Künftige Forschungsarbeiten können auf zusätzliche Ergebnisse, alternative Risikofaktoren oder Moderatoren und vielfältigere demografische Gruppen ausgedehnt werden, um ein umfassendes Verständnis der Folgen und Vorteile der Cannabislegalisierung zu gewährleisten.
Zellers, S., Ross, J., Saunders, G., Ellingson, J., Walvig, T., Anderson, J., . . . Vrieze, S. (2023). Recreational cannabis legalization has had limited effects on a wide range of adult psychiatric and psychosocial outcomes. Psychological Medicine, 1-10. doi:10.1017/S0033291722003762
Und so kommen wir einer differenzierten Betrachtung des Risikos von Cannabiskonsum näher – auch ohne polemische Kampfbegriffe wie „Einstiegsdroge“. Zum Schluss noch ein Satz von Prof. Kleiber, der nicht, wie ich, aus der Sicht eines Konsumenten argumentiert:
Eine behutsame politische Maßnahme, die einer differenzierten Risikoabschätzung des Cannabiskonsums Rechnung trägt, könnte darin bestehen, Erwerb und Besitz kleiner Mengen von Cannabis zukünftig nicht mehr strafrechtlich zu verfolgen.
Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hrsg.) (1993).Jahrbuch Sucht 1994 (S.143-159). Geesthacht: Neuland Verlagsgesellschaft, 2.2.3 Cannabis – Konsummuster und Gefährdungspotential . H. Peter Tossmann, Renate Soellner, Dieter Kleiber